Giuseppe Tartini
Konzert in E Moll, D.55
ed. Enrica Bojan
Das E-Moll Konzert D. 55 wurde erstmals zusammen mit 5 weiteren Tartini-konzerten von dem holländischen Verleger Michel Charles Le Cène herausgegeben. Obwohl sich die Kriterien nicht feststellen lassen, nach denen der mutige Verleger die sechs Konzerte zusammenstellte,1 ist als sicher anzunehmen, daß schon seit mindestens 1722 eine enge und andauernde Arbeitsbeziehung zwischen dem Komponisten und dem niederländischen Verlag bestand.2 Das Originalmanuskript dieses Tartini Konzerts ist nicht erhalten;3 wir können ebenfalls nicht mit Bestimmtheit feststellen, ob Tartini die Ausgabe seiner Kompositionen auch selbst autorisierte. Allerdings kann man auf dem Deckblatt des von Le Cène verlegten Opus eins, Heft zwei lesen: „Konzerte [...] von Signor Tartini komponiert und zur Verfügung gestellt". Das läßt mit einiger Sicherheit darauf schliessen, daß der Verleger, der damals schon in ganz Europa bekannt war, authentische Werke kaufte und herausgab.4 Die Titelseite von Heft eins, Opus eins weist kein Erscheinungsdatum auf; die Forschung hält jedoch das Jahr 1728 für das wahrscheinlichste.5Neben der gedruckten Ausgabe von Le Cène gibt es vier weitere bekannte Quellen des Konzertes D. 55:6 In Dresden, Sächsische Landesbibliothek, ms2456 O\I-II; Berkely, (California), University Music Library, ms It.886; Cambridge, Fitzwilliam Museum, ms 23G2; Manchester, Manchester Central Library, The Manchester Concerto Partbooks, item 60.
Die gedruckte Ausgabe von Le Cène7 besteht aus fünf Stimmensätzen; die vier ersten jeweils für solo, erste, zweite Geige und Viola. Der letzte Stimmensatz hingegen kombiniert Generalbaß und Violoncello. Die Stimme der zweiten Geige ist, abgesehen von geringfügigen Details, mit der ersten identisch. Die Cambridge-Handschrift, sicher von einem Kopisten angefertigt,8 schreibt unisono für erste und zweite Geige vor. Der Generalbaß stimmt fast gänzlich mit der Ausgabe von Le Cène überein, daher nimmt man an, daß die Kopie direkt davon abstammt.
Im Dresdener Manuskript, ebenfalls einer Kopie, wird die Instrumentation nicht und der Generalbaß nur stellenweise angegeben.9 Die kalifornische Quelle besteht aus einer Kopie, die als einzelne Stimmen verlegt sind. Diese Handschrift unterscheidet sich stark von der Ausgabe Le Cènes. Ganze Abschnitte unterscheiden sich melodisch, und es gibt zwei Solostellen im ersten Satz, die in keiner der anderen Quellen erscheinen.10 Der Generalbaß fehlt.
Paul Everett, der die Manchester Stimmenbücher beschrieben und kommen-tiert hat,11 weist hier auf die Ähnlichkeiten mit der gedruckten Ausgabe und der Dresdener Handschrift hin. Eine un-abhängige Stimme für die erste Geige im Soloteil des ersten Satzes unterscheidet sich grundsätzlich von den beiden anderen Quellen, in denen die zweite Geige mit der ersten identisch ist. Everett denkt, daß Le Cène ein Manuskript benützte, in dem dieser Teil fehlte. Die Manchester Handschrift ist, nach Meinung Everetts, demnach die vollständigste. Aus diesem Grund stellt sie die Hauptquelle für die vorliegende Ausgabe dar. Unsere Änderungen begrenzen sich auf die Modernisierung des Schriftbildes. Die Ornamentik erfolgt gemäß des Originals, ohne die musikalische Ausführung vorzu-geben.12
Die Bindungen und Legatobögen des Originals sind beibehalten, obwohl sie nicht immer ganz konsequent erscheinen. Das Manuskript enthält die einzelnen Stimmen für solo Geige, erste Geige, zweite Geige und Viola. Diese Hinweise auf die Instrumentation sind bei Tartini ungewöhnlich, besonders die Anwesenheit des Cembalos: nur ganz selten gibt der Kompo-nist die Instrumentation an, wobei das Wort „basso" in den autographen Werken sich auf Register und nicht auf ein Instrument bezieht.13 In Anlehnung an die Manchester Hand-schrift haben wir keine Änderungen an der Instrumentation vorgenommen.
1 Auf der Titelseite von der Le Cène Ausgabe steht: Sei / concerti / a cinque e sei stromenti / a violino principale, violino primo / di ripieno, violino secondo, alto viola, / organo e violoncello, / del Signor, / Giuseppe Tartini / di Padoua / opera prima / libro primo / raccolti, da me / Amsterdam / Michel Charles Le Cène / n. 536.
2 Siehe diesbezüglich die vor kurzem erschienenen Studien von S.T. BISI, Contributo ad un'edizione critica dei sei concerti Opera Prima-Libro Primo da Giuseppe Tartini, Dissertation, Universität Padua, Geisteswissenschaftliche Fakultät, Fachbereich Bildende Kunst und Musik. A.A. 1995-96.
3 Siehe R. RASH, I manoscritti musicali nel lascito di Michel Charlees Le Cène (1743), in Intorno a Locatelli hrsgg.von A. Dunning, Lucca, LIM, 1995, Vol. II, S. 153-168.
4 Zum Verhältnis zwischen dem Verleger Le Cène und den italienischen Musikern Martini und Tartini, die mehrere Kompositionen nach Amsterdam geschickt hatten, siehe Padre Martini's collection of letters, Bologna, Civico Museo BibliograWco Musicale, an annotated index, A. Schonoebelen, Pendagon Press, New York.
5 G. W. Thomson hält 1729 für wahrscheinlicher, jedoch liegen seiner Annahme keine zwingenden Tatbestände zugrunde. Siehe G. W. THOMSON, I primi concerti di Giuseppe Tartini: fonti, abbozzi e revisioni in Diverse Autoren: Tartini. Il tempo e le opere hrsgg. von A. Bombi und M. N. Massaro, Bologna, Il Mulino, 1994, S. 347-362.
6 Die Nummer des Konzerts stimmt mit dem Katalog von M. DOUNIAS überein, Die Violinkonzerte Giuseppe Tartinis, Zürich, Möseler Verlag, 1935 (Neudruck Wolfenbüttel, 1966), S.268. Die Be-zifferung erfolgt nicht chronologisch sondern nach Tonalität. Dounias' Studien zufolge gibt es nur noch eine Kopie von diesem Konzert, aus Tartinis erster Schaffenszeit (1724-1735); sie befindet sich in der Sächsischen Landesbibliothek von Dresden.
7 Die hier benützte Ausgabe befindet sich in der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien. RISM zufolge gibt es 14 weitere gedruckte Kopien in verschiedenen grossen Bibliotheken.
8 Das Deckblatt der gesammelten Werke, die dieses Konzert enthalten, ist mit 1760 datiert. Siehe T. S. BISI, Contributo ad un'edizione critica…, cit., S. XXXI-LIX.
9 Siehe Ibid. S. XLVI-LVII. Es sei auf die interessante Beobachtung des Autors verwiesen, derzufolge der Kopist der berühmte Musiker Pisendel sein könnte, der sich um 1730 am Dresdener Hof aufhielt.
10 Für die erste Geige von Takt 36 und für die solo Geige von Takt 123.
11 P. EVERETT, The Manchester Concerto Partbooks, 2 Vol., 'Outstanding Dissertations in Music from British Universities', New York & London,Garland,1989.
12 Die Ausführung von Verzierungen und Kadenzen gehört zu den ungelösten Problemen beim Studium von Tartinis Stilistik, obwohl der grosse Violinist Traité des Agrémens für seine Schule schrieb. Dazu siehe Fonti tartiniane: alcune annotazioni und L. GRASSO CAPRIOLI, Lessico tecnico e strutture linguistice di Tartini didatta nelle «Regole per ben suonar il violino» in Tartini. Il tempo e le opere, cit., S. 395-400 und S. 281-298. Die zweite Studie beschreibt die Hauptabhandlungen zum Thema Verzierungen in jener Zeit (von J. J. Quantz, C. Ph. E. Bach, L. Mozart) und zeigt die Eigenarten von Tartinis System auf. Traité des Agrémens wurde zu Tartinis Lebzeiten nicht herausgegeben und erschien erstmals in Druck in Paris 1771 mit einer gleichnamigen Übersetzung von P. Denis. Die vermutliche italienische Originalversion trägt den Titel Regole per ben suonar il violino.
13 Die Konzerte wurden in der Basilica del Santo in Padua bei feierlichen Anlässen aufgeführt. Wahr-scheinlich war Tartini selbst der Solist (1721 war er bereits Konzertmeister). Es stand ihm ein grosses Orchester mit Orgelbegleitung zur Verfügung. Siehe P. PETROBELLI, Tartini, le sue idee e il suo tempo, Lucca, LIM, 1992, p.115-116; M. CANALE DEGRASSI, Destinazione e aspetti esecutivi dei concerti per violino di G.Tartini: contributi per un approfondimento, in Intorno a Locatelli, cit., S. 152-163.
Padua, April 1998
Enrica Bojan
Übersetzung Burgi Hartmann