Home page
Composer | Editor | Group | Instrumentation | Series |

Giuseppe Tartini

Konzert in G-Dur, D.82

ed. Enrica Bojan
English
Italiano
Incipit


Für die kritische Ausgabe dieses Konzerts in G-Dur D.82 wurden zwei Quellen herangezogen: die handschriftliche Partitur DVII 1902 n.77 des Musikarchivs der Basilika Antoniana1 in Padua ist die einzige Quelle, die Dounias in seinem Katalog anführt;2 und das Manuskript in mehreren Teilen von Berkeley, aus der Musikbilbliothek der Universität von Californien, It.911.3

Die handschrifliche Quelle besteht aus einer Titelseite und aus sieben Blättern mit je 16 Notenliniensystemen pro Seite. Der Titel «Concerti Tartini Partit.a n.124» ist handgeschrieben am Deckblatt. Die Zahl wurde später zu 77 geändert und weiter oben auf die Seite gedruckt. Wie immer bei Tartini, ist das Manuskript sauber und präzise. Man Wndet keine Korrekturen oder Tilgungen, weder im musikalischen Text noch zwischen den Notenlinien. Es gibt keine Tempovorzeichen am Anfang des 2. und 3. Satzes. Der Komponist gibt auch keine Orchesterzusammensetzung an, bezeichnet jedoch vier Teile mit Tutti und drei Teile mit Soli.

Die Berkeley Quelle besteht aus 9 Quarto-Blättern mit je 10 Notenliniensystemen und ist von 1 bis 14 numeriert. Sie ist Teil einer Handschriftensammlung, die auch andere Konzerte enthält. Diese Sammlung entstand wahrscheinlich später, aber sicher von einem Kopisten aus dem Kreis Tartinis. Die verschiedenen Teile sind für violino principale, violino p.mo obligato, violino secondo obligato, violetta obligata, basso.

Die erste Seite mit Notenlinien ist zugleich das Deckblatt und trägt den Titel Violino principlale / Concerto / del Sig.r Giuseppe Tartini, ohne weitere Anmerkungen. Die Handschrift ist sauber und deutlich, ohne Korrekturen oder Tilgungen. Die Anweisungen Tutti, Solo und Soli entsprechen denen der Handschriftenpartitur. Verglichen mit Tartinis Original sind die Änderungen minimal, abgesehen von 20 völlig abweichenden Takten für Viola im 1. Satz (T.79-98). Der 2. Satz, für alle Stimmen Andante, weist nicht das „Motto" von Tartinis Handschrift auf. Der 3. Satz aus der Berkeley Quelle, Presto, weicht vom Original ab: tatsächlich ist es der 3. Satz des Konzerts in G-Dur D.79. Bis heute konnte keine überzeugende Erklärung für diese Änderung gefunden werden; noch gibt es Aufschlüsse über mögliche Quellen dieses 3. Satzes, um sie mit dem Original vergleichen zu können. Aus diesem Grund wurde für die vorliegende, kritische Ausgabe nur Tartinis Original herangezogen, das bis jetzt der einzige Beweis für diesen Satz des Konzertes ist. Kritische Ausgaben von Tartinis Konzerten stoßen immer wieder auf fundamentale Lücken, die die philologische und musikalische Aufarbeitung seines Werkes begrenzen.4

Die Orchesterzusammensetzung in Tartinis Partituren ist immer problematisch, da sie normalerweise nicht vorgegeben ist. Man darf jedoch nicht vergessen, daß Tartinis Konzerte gewöhnlich in der Basilica del Santo zum Anlaß hoher Festtage aufgeführt wurden.5 Höchstwahrscheinlich war Tartini selbst der Solist (seit 1721 war er „1. Geiger und Konzertmeister"). Dokumentarische Überlieferungen und sein Traité des agrémens bezeugen, daß ihm ein hervorragendes Orchester zur Verfügung stand, gewohnt, bei derartigen Aufführungen zu glänzen. Dadurch waren detaillierte musikalische Anmerkungen in der Partitur nicht nötig.6 Das Rätsel der Orchesterzusammensetzung bei Tartini ist aber noch immer ungelöst. Studien dazu kommen meist zu dem Schluß, daß die Zahl der Musiker und Instrumente von deren Anwesenheit sowie den Anlässen der Aufführungen abhing.7

Hier können, an Hand der Originalpartitur und ohne eine Lösung dieser sensiblen Frage in Anspruch zu nehmen, die Stellen, die Tartini mit Tutti bezeichnet, wie folgt zugeteilt werden: die ersten Notenlinien der Sologeige und der ersten Geigen gemeinsam; die zweiten Notenlinien, gekennzeichnet mit Soli, einer obligaten Geige (oder einer Guppe der zweiten Geigen); die dritte, im Violaschlüssel, der Viola (oder einer Gruppe vonViolas); die letzte schließlich, im Baßschlüssel, dem Violoncello und Generalbaß. Die Stellen, die mit drei Systemen notiert sind, müssen sowohl erste und zweite Geigen als auch eine Sologeige haben, da alle Stimmen im Violinschlüssel geschrieben sind.8 Die Gegenüberstellung von Instrumentengruppen, die einen stilistischen Dialog von Klangintensitäten hervorrufen will, erinnert an die Strukturen der concerti grossi bei Arcangelo Corelli.

Als Kontrast ist der 2. Satz des Konzerts in drei Teilen und im Violinschlüssel geschrieben, ohne weitere Vorzeichen. Für die Ausführung werden hier erste und zweite Geigen angedeutet. Auch der 2. Satz lehnt sich an Corellis adagi an, mit der omnipresenten cantabile höheren Stimme unabhängig von den beiden anderen, die eine harmonische Begleitung darstellen. In der handschriftlichen Partitur Wnden wir auch keine Stimme für ein Tastaturinstrument als Generalbaß, der der Forschung zufolge gegenwärtig war. Er scheint in keiner Partitur auf, und wenn basso erwähnt wird, bezieht es sich auf die Stimme und nicht das Instrument; es gibt keine Bezifferung. Die Benützung des Cembalos scheint ausgeschlossen, jedoch bezeugen einige Dokumente ausserhalb der Musikwissenschaft den Gebrauch der Orgel; besonders hinsichtlich der Sakralkonzerte für die Basilica del Santo, wo die Orgel dominierte.10 Allerdings herrscht Übereinstimmung, daß der Generalbaß die Tutti-Stellen begleitete, jedoch nicht die Soli.11 Diese Ausgabe überläßt die Ausführung des Generalbasses den Musikern.12

In Tartinis handschriftlicher Partitur gibt es am Anfang ein verschlüsseltes Motto, das Dounias entzifferte, «So pietà no hai».13 Den neuesten Untersuchungen zufolge ist dies weder ein Zitat aus der Literatur noch melodramatisch, sondern einfach eine Silbenfolge der Melodie der 1. Geige. Noch ist unklar, warum Tartini so einen kryptischen Weg zur Unterscheidung seiner Themen einschlug. Jedoch erscheint der gleiche Vers in Rosmira, Aria II, 2, einer von Vivaldi zusammengestellten Oper von mehr als einer Komponistenhand, die 1738 in Klagenfurt aufgeführt wurde.14 Tartini könnte entweder das Libretto oder die Partitur gekannt haben; daher könnte diese Stelle ein musikalisches Zitat sein, wobei er dasselbe musikalische Material verwendete; oder einfach ein persönlicher Kommentar der Arie. Diese Ausgabe folgt getreu Tartinis Handschrift, etwaige Änderungen begrenzen sich auf die Modernisierung des Schriftbildes. Die Variationen in der Berkeley Quelle sind in den Fußnoten der Einleitung aufgelistet. Keine dynamischen Vorzeichen wurden hinzugefügt, da diese für den sorgfältigen Musiker klar sein sollten.

Die Ornamentik wurde vom Original übernommen, ohne Angabe für Ausführungen. Die Regeln des 18. Jahrhunderts für Routineausführungen von Verzierungen und Kadenzen an den Höhepunkten stellen die Forschung von Tartinis Stil bis heute vor ein ungelöstes Problem, obwohl der große Geiger Traite des agremens für seine Schule schrieb. 15

Diese Ausgabe möchte die Musik in ihrem historischen Kontext kritisch beleuchten, um dadurch die heutigen Aufführungen so weit wie möglich den Originalpraktiken und dem Stil des Komponisten annähern zu können.


Padua, Oktober 1998
Enrica Bojan
Übersetzung Burgi Hartmann


1 Einsicht in die handschriftliche Partitur ist der freundlichen Hilfe Padre Giovanni Luisettos in der Biblioteca del Santo zu verdanken.

2 M. DOUNIAS, Die Violinkonzerte Giuseppe Tartinis, Zürich,Möseler Verlag, 1935 (Neuauflage Wolfenbüttel,1966), S.278. In dieser Ausgabe werden Tartinis Konzerte nicht chronologisch, sondern nach Tonalität katalogisiert. Nach Dounias fällt das Konzert D.82 in Tartinis zweite Periode, zwischen ca.1735 und 1750.

3 Von F. NESBEDA, Catalogo delle Composizioni in Verschiedene Autoren, Giuseppe Tartini nel terzo centaenario della nascita, Hg. M.SoWanapulo, Trieste, Tergeste Publishing, 1992, S.114-115. Studium und Veröffentlichung von Teilen dieser Quelle ist der Musikbibliothek der University of California, Berkeley, zu verdanken.

4   Für einen Überblick des derzeitigen Wissensstandes über Tartinis Opus siehe F. NESBEDA, Catalogo delle composizioni, in M. SoWanopulo, Hg., Giuseppe Tartini nel terzo centenario della nascita, Trieste, Tip. Tergeste, 1992, S.104-144. Petrobellis Buch: Giuseppe Tartini. Le fonti biograWche, Wien-London-Mailand, Universal Edition, 1968 ist immer ein nützliches Nachschlagwerk.

5 Zu diesem Problem siehe P. PETROBELLI. Per l'edizione critica di un concerto tartiniano, in Tartini, le sue idee e il suo tempo, Lucca, LIM, 1992, S.115-116; M. CANALE DEGRASSI, Destinazione e aspetti esecutivi dei concerti per violino di G. Tartini: contributi per un approfondimento, in A. Dunning, Hg., Intorno a Locatelli, Lucca, LIM, 1995, S. 152-163.

6 Siehe auch E. FARINA, Pubblicare oggi le opere di Tartini, in Tartini. Il tempo e le opere, ibid., S.401-408.

7 Zu diesem Problem siehe P. PETROBELLI. Per l'edizione critica di un concerto tartiniano, in Tartini, le sue idee e il suo tempo, Lucca, LIM, 1992, S.109-136; M. CANALE DEGRASSI, Destinazione e aspetti esecutivi dei concerti per violino di G. Tartini: contributi per un approfondimento, in A. Dunning, Hg., Intorno a Locatelli, Lucca, LIM, 1995, S. 151-173. Die Orchesterzusammensetzung wurde anderen Konzerten vergleichbar unter Berücksichtigung von historischen Dokumenten neben der Partitur hergestellt.

8 Siehe P. PETROBELLI, Tartini, le sue idee e il suo tempo, ibid. S.109-136.

9 Für die Beziehung Tartini-Corelli siehe P. Petrobelli, Tartini e Corelli, in Tartini, le sue idee e il suo tempo, ibid., S.137-147.

10 P. PETROBELLI, per l'edizione critica...ibid., S.134-135. Dieses Problem ist noch ungelöst; es gibt keine deWnitive Antwort.

11 E. FARINA, Pubblicare oggi le opere di Tartini, ibid., S.404-405.

12 Experten scheinen übereinzustimmen, daß Tartini den linearen Klang der Solocelli der harmonischen Fülle eines Tasteninstruments vorgezogen habe.

13 „Ich weiß, du hast kein Mitleid". In seiner Dissertation, Die Violinkonzerte Giuseppe Tartinis, ibid., S.94-95, entschlüsselt Dounias Tartinis geheimes Alphabet, und zeigt die Ähnlichkeit vieler Texte zu Metastasios Versen auf. Das „Motto" am Anfang eines Satzes kann nicht als typisch für Tartini angesehen werden, da er es selten verwendet. Durch das kryptische Alphabet wird auch impliziert, daß der Komponist die Einführung sekulärer Elemente in ein für den kirchlichen Rahmen bestimmtes Werk nicht akzeptabel fand. Für weitere Studien zu diesem noch ungelösten Thema siehe Verschiedene Autoren, Motti tartiniani: nuove concordanz, nuovi problemi, Verschiedene Autoren, Tartini. Il Tempo e le opere, ibid. S.389-394.

14 Rosmira wurde im Winter 1738 erstmals in Venedig aufgeführt und beruht auf einem Libretto von Stampiglia von 1699. Dieses lag auch früheren Aufführungen von Partenope, 1708, und von Rosmira fedele, 1725, zugrunde. Die oben erwähnte Arie erscheint in keiner dieser Aufführungen, nur in der oben genannten Oper Rosmira, 1738 in Klagenfurt während des Karnevals aufgeführt und in Graz im Herbst 1739. Siehe A. L. BELLINA, B. BRIZI, M. G. PENSA, I libretti vivaldiani, Firenze, Olschki, 1982, S.221. Es gilt als ziemlich sicher, dass die Arie «So che pietà non hai» eine Vorlaüferin in «Catone in Utica» II, 3, von Metastasio besitzt. Jene Oper wurde in Rom 1728 uraufgeführt.

15 Tartini ließ Traité des agrémens unveröffentlicht, und er erschien erstmals 1771 in Druck in Paris unter demselben Titel, übersetzt von P. Denis, in 1771. Das angebliche italienische Original hat den Titel: Regole per ben suonar il violino. Dazu siehe: verschiedene Autoren, Fonti tartiniane: alcune annotazioni und L. GRASSO CAPRIOLI, Lessico tecnico e strutture linguistiche di Tartini didatta nelle «Regole per ben suonar il violino», in A. Bombi und M.N. Massaro, Hg., Tartini. Il tempo e le opere , Bologna, il Mulino, 1994, S. 395-400 und S. 281-298. Die zweite Studie zitiert die wichtigsten Arbeiten jener Zeit über Ornamentik (von J.J. Quantz, C. Ph. E. Bach, L. Mozart) und hebt die Eigenarten von Tartinis System hervor. Hierzu möchten wir festhalten, daß der Triller (und der Mordant), wie damals üblich, gewöhnlich auf der höheren Anschlagnote begann und daß die Vorschlagsnote damals genauso wie heute ausgeführt wurde.